Hameln, 29.09.2024: Günter Bialkowski schreibt zur Beitrag des Wochenenbeilage der DEWEZET des RedaktionsNetzwerks RND „Die Einheit am Scheideweg“ und zur Verleihung des 20. Rattenfänger-Literaturpreises:
Markus Decker sieht in der Wochenende-Beilage vom 28./29. 09.24 des RedaktionsNetzwerks RND „Die Einheit am Scheideweg“. Dick gedruckt schreibt er „… von einem Gemeinschaftsgefühl kann keine Rede sein. Viele Ostdeutsche fühlen sich als Opfer, und viele Westdeutsche begreifen nicht, warum. Nicht nur die jüngsten Landtagswahlen zeigen: Ost und West driften auseinander.“ Und Ines Geibel die frühere
DDR-Leistungs-Sportlerin meint „… es braucht vor allem eine neue offensive Erzählung zwischen Ost und West.“ Im Verlauf des ganzseitigen Beitrags kommen noch andere sachkundige Personen und Experten zum Zuge. Das Bemühen, das Drama der sich immer mehr als feindliche Brüder gegenüber stehende Osten versus Westen erklärbar zu machen, ist über deutlich spürbar!
Mir wird hier allerdings zu sehr von der Schuldfrage bzw. von rationalen Erklärungs-Mustern her argumentiert. Und natürlich muß die Faktenlage nach über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Berücksichtigung finden, genauso wie die Wirtschafts- und Migrations-Frage. Auch der unbändige Westhass im Osten, der Rassismus und Nationalismus ist wie im Beitrag hervor gehoben, wohl noch zu erklären.
Neulich berichtete Frank Henke in der DWZ von der Verleihung des 20. Rattenfänger-Literaturpreises durch Oberbürgermeister Claudio Griese an die Schwedin Frida Nilson.
Die Autorin hatte den Preis für ihr Kinderbuch „Sem und Mo im Reich der Lindwürmer“ erhalten. In ihrer Dankesrede hob sie „Fürsorge und Empathie“ als zentrale menschliche Werte hervor. Dies sei etwas Heiliges im Menschen. Die Empathie als ein Konzept in der Psychologie ist demnach ein wichtiger Faktor in einer Demokratie, die allerdings im Menschen ungleich verteilt ist. Die Realität, das kann man den Worten Frida Nilsons entnehmen hängt demnach vielfach vom Charakter (der Psyche) der Betroffenen ab.
Wie sagt doch Frank Henke einleitend: „… die phantastische Welt ihres Buches hat viel mit unserer Gegenwart zu tun.“ Wie wahr!
Wenn das Gegenteil von phantastisch alltäglich, abscheulich, beschissen bedeutet, dann ist uns psychologisch etwas aus dem Ruder gelaufen, wovon Willy Brandt einst schwärmte „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört!“ Wo ist bloss die Euphorie dieser Tage geblieben? Der Historiker Kowalczuk sieht im Osten große Emotionen, reichlich Wut, weniger Rationalität und Vernunft. Das ist die Gemengelage an der AfD und BSW mit ihren Kümmerer-Attitüden und Heilsversprechen andocken. Sie heizen damit jene Wut an, die uns Westlern fremd ist. Doch wie soll es nun weiter gehen? Ist die „Einheit am Scheideweg“, wie Markus Decker titelt? Und er gibt auch noch eine Antwort, wie es gehen könnte. Er schreibt „Ohne Bereitschaft zur Selbstkritik wird das hier wie dort
nicht gehen.“ Und da auch ich ein Westler bin, fange ich mal gleich mit dem Erinnern an.
Wie war das noch damals 1990-1995? Ja-es waren turbulente Zeiten. Eine Woge der Freude spülte überall die Emotionen hoch, auch Überlegenheitsgefühle. Tarifgebunden, CDU/FDP - regiert und im Bonner-Sozial-Staat verankert spürten auch wir Arbeitnehmer, dass die steigende Welle der Privatisierungen in Westdeutschland unseren, von Sozialdemokraten und Gewerkschaften erkämpften Sozialstaat veränderten! Erste Verunsicherungen unter Helmut Kohl machten sich breit. Wer von uns sensibel genug war, der konnte erahnen, um wieviel mehr Ängste die Menschen vor der Treuhand und ihrem als radikal empfundenen Abwickeln der DDR-Wirtschaft hatten. Schon damals gab es die ersten Sprachumkehrungen. Während DDR-Menschen gefühlt von Massenentlassungen selbst bei marktrentablen DDR-Unternehmen sprachen. Hiess es z.B. bei der bpb : „Zwar konnten bis zur Auflösung durch die Treuhand Ende 1994 durch Privatisierung insgesamt etwa 1,5 Mill. Arbeitsplätze gesichert und rund 200 Mrd. D-Mark Investitionszusagen neuer Eigentümer eingeworben werden“, usw. und so fort. Noch heute kann man die damals aufkommende Wut im Osten spüren und z.T. auch nachvollziehen, denn niemand sprach über die weitaus größere Zahl der abgewickelten Arbeitsplätze. Viele Arbeitnehmer und Familien stürzten damals von der gelenkten in die vom Westen als übergestülpt empfundene freie Markt-Wirtschaft. Ab jetzt musste jeder selber sehen, wo er blieb! Diese Angst vor dem sozialen Absturz in eine ungewisse Zukunft, begleitet wohl bis heute viele Menschen im Osten. Zwar haben auch nicht wenige den Anschluss an die kapitalistisch ausgerichtete Arbeitswelt im Westen und manchmal auch in die Selbständigkeit geschafft. Doch blieb dies für lange Zeit eine Minderheit.
Wenn wir also selbstkritisch auf uns und die damals regierende Kohl/Genscher/Graf Lambsdorf - Regierung schauen, dann müssen wir festhalten, auch und gerade für unsere Jüngeren heute hier wie dort: Ja - es wurden Fehler gemacht! Zu viele Spitzen in Regierung und Wirtschaft waren einheitstrunken, zu viele West-Unternehmen witterten im Osten Gewinn- und Expandier-Chancen. Zu wenige sahen den sozial-psychologischen Kardinalfehler - die Transformation der DDR-Wirtschaft schnell und ohne die Menschen durchzuziehen! Die Menschen im Osten suchten im Westen die Freiheit und bekamen gefühlt ein hartes, unsolidarisches und mit vielen Konkurrenzfallen ausgestattetes und für sie völlig anderes Lebensgefühl geliefert. Und das Schlimme daran, diese Zeit wird bis heute von der damaligen Elterngeneration als Niederlage, ja persönliche Schmach empfunden und an Kinder und Enkelkinder weiter tradiert. Denn sie haben ja selbst nach westlichen Werten und Maßstäben alles richtig gemacht: haben fleißig gearbeitet, die Frauen waren sogar früher als bei uns vollberufstätig. Nur - dieses westliche System verweigerte ihnen die Anerkennung und das empfinden sie als ungerecht. Nicht wenige schlüpften in die Opferrolle, die z.T. bis heute anhält. Dieses Gefühl tangiert immer noch unser Verhältnis zwischen Ost und West.
Und hier und heute kommt die AfD ins Spiel. Sie hat Ohnmachts-Gefühle im Osten in Hass gegen den Westen, gegen die hier herrschenden Eliten umgewandelt. Wenn, wie Ines Geipel die Ex-Sportlerin und heutige Publizistin fordert, eine offensive neue Erzählung zwischen Ost und West her müsse, dann sollten wir als Erstes bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit die Fehler der Wendezeit offensiv aufgreifen und ansprechen. Für die Fehler der Treuhand-Anstalt sollte sich der Bundespräsident für die materiellen, sozialen und seelischen Schäden bei unseren Bürgern im Osten entschuldigen, denn der Mensch ist mehr als nur ein Rädchen in einem ökonomischen Model, wie sie damals Hr Rohwedder und später Fr Breul in der ehemaligen DDR mit Druck und Eile umsetzten. Zum anderen sollten die Feierlichkeiten am 3. Oktober einen anderen Charakter bekommen, weniger westlich-elitär, einfacher, östlicher! Und unsere demokratisch gewählten Regierungen müssen den Freiheitsbegriff wieder sozialer denken. Hier bei uns
dominiert der ökonomisch unterfütterte Freiheitsbegriff, der Blick im Osten ist aber weiter gefasst und enthält immer auch die soziale Sicherheit gleich mit.
Vielleicht ist damit ja schon die Richtung für eine neue Erzählung angegeben und wir könnten populistischen Parteien wie AfD und BSW das Wasser abgraben. Machen wir unsere Demokratie einfach wieder gerechter! Dann lohnt es sich im Osten wie im Westen wieder gemeinsam für unsere freiheitliche Demokratie einzustehen. Nein-wir schlittern auf keinen Fall in eine dritte deutsche Diktatur, wir fassen alle unsere Fähigkeiten zusammen: Kopf und Verstand, Fürsorge und Empathie dann sind wir auf gutem Wege.
Günter Bialkowski
herral, 02.09.2024