Eigener Bericht: Kriegsanfang vor 85 Jahren, Gedenken am Friedhof Wehl 2024

Hameln, 02.09.2024: Rund 40 Menschen waren am Sonntag um 11.30 Uhr an der Gedenkstätte für die Opfer des Zuchthauses Hameln auf dem Friedhof Wehl erschienen, um an den Beginn des 2. Weltkrieges zu erinnern. Mit dabei die MdL Constantin Grosch und Ulrich Watermann und einige Vertreterinnen und Vertreter der lokalen Politik, ein Polizist, der Superintendent, die Organisatoren und ein Kreis von Bürgerinnen und Bürgern, denen solche Veranstaltungen wichtig sind. Drei junge Menschen sorgten für die musikalische Begleitung mit Gesang und Gitarre.

Vertreter der Medien sind mir nicht aufgefallen. Die Anklickrelevanz für einen Verlaufsbericht zu so einer Veranstaltung dürfte als nicht sonderlich hoch eingeschätzt worden sein.

Parallel lief am Wochenende ja auch das Pflasterfest. Gewählt wurde in den Bundesländern Sachsen und Thüringen.

Initiiert und organisatorisch begleitet hatte das Bündnis „Bunt statt Braun“ gemeinsam mit dem Oberbürgermeister Claudio Griese. Daniel Wünsch begrüßte kurz und formulierte seine Enttäuschung über die im Vergleich zu den vergangenen Jahren eher geringe Teilnahme.

Dann hatte Claudio Griese das Wort.  Hamelns Oberbürgermeister fand deutliche Worte: Die 60 Millionen Toten des zweiten Weltkrieges seien als deutsche Schuld in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben. Normale deutsche Bürger hätten das System gestützt. Auch wenn der Krieg mittlerweile lange Vergangenheit sei, für das Jetzt sei die Bedrohung wieder erheblich gestiegen. Der Krieg als Machtmittel habe seine Bedeutung nicht verloren. Griese erinnerte daran, dass der Krieg lange vorbereitet und beileibe nicht eine Reaktion auf einen erfundenen Angriff der Polen gewesen sei. Der Oberbürgermeister zitierte Überschriften aus der DEWEZET vom 1.9.1939 und beschrieb mittels weiterer Berichte die Kriegsvorbereitungen auch in unserer Stadt, u.a. mit der Ausgabe von Volksgasmasken und Hinweisen in der Zeitung, wie man sich bei Fliegeralarm zu verhalten habe. Die Zeitung veröffentlichte Bilder vom Umgang mit Verwundeten, die klassische Propaganda waren. Mit Karl Meyer erinnerte er an den ersten toten Soldaten aus Hameln. Mit 23 Jahren starb er am 5. September. Wenige Tage später folgen drei weitere Tote. Sein Appell zum Schluss für heute: Es sei wichtig wolkige Geschichten zu hinterfragen, Demokratie, Realitätssinn und Frieden müssten bewahrt werden.

Es folgte ein Redebeitrag von Stefan Marquard, der für die IG Metall sprach. Er mahnte: „Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden bedeutet Gerechtigkeit, Gleichheit und die Achtung der Menschenrechte. Es bedeutet, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, in Würde zu leben, zu arbeiten und zu träumen.“

Bernhard Gelderblom erinnerte an Marija Michailowna Sapliwaja, eine aus der Ukraine verschleppte Zwangsarbeiterin. Der Wortlaut der Rede ist nachfolgend veröffentlicht. „Ich wollte in diesen genügend schwierigen Zeiten ein Schicksal zeigen, das einen guten Ausgang genommen hat“ so Gelderblom.

Sylvia Büthe von Bunt statt Braun las dann ein Gedicht von Eva Mutz, „Freiheit ist fragil“ vor.

In diesem Jahr wurden bunte heimische Sommerblumen auf den Grabtafeln der im Zuchthaus Hameln umgekommenen Menschen abgelegt.


Bildervideo:


Redetext von Bernhard Gelderblom:

Antikriegstag 1. September 2024 auf dem Friedhof Am Wehl

Im August 2001 erhielt ich einen Brief aus der Ukraine. Absenderin war Marija Michailowna Sapliwaja aus dem Dorf Stepanowka, Chmelnizker Gebiet.

Sehr geehrter Herr Gelderblom,

ich und meine Verwandten wünschen Ihnen Gesundheit und alles Gute in Ihrem Leben.

Als ich Ihren Brief erhielt, weinte ich vor Freude. Ich versuche, Ihnen über meinen Aufenthalt in Deutschland zu schreiben.

Ich wurde 1927 im Kamenz-Podelsky-Gebiet im Dorf Bolschoi Karabtschiew geboren.

1942 beendete ich die 8. Klasse der Schule und am 24. November 1942 wurde ich nach Deutschland verschleppt. Ich war 15 Jahre alt und kleinwüchsig.

Die Fahrt war sehr schwer; bis dahin hatte ich sogar keinen Eisenbahnzug gesehen. Wir fuhren zwei Wochen und wurden in die Stadt Hameln gebracht. Dort wurden wir zweimal durch die Gesundheitskommission geprüft, aber niemand wurde nach Hause geschickt.

Ich und noch neun Menschen wurden in die Möbelfabrik Sinram & Wendt geschickt. Aus meiner Gegend waren noch zwei Frauen. Eine ist statt ihrer Mutter gefahren. Aber später wurde auch diese weggeschleppt. Bis zum Ende des Krieges blieben wir elf zusammen. Diese Frauen leben schon nicht mehr.

Ich arbeitete an einer Maschine, wo das Gewinde zum Einschrauben der Haken in die Bügel geschnitten wurde.

Man hat uns gesagt, dass wir 500 Kilometer von Berlin entfernt waren, seitlich befand sich Hamburg und 30 Kilometer entfernt von uns war Hannover.

Wir wohnten im Lager, das sich neben der Fabrik befand. Dort gab es das Speisezimmer und unser Schlafzimmer mit mehrstöckigen Betten.

Zwei bejahrte Italiener brachten uns das Essen aus der Stadt. Wir hatten aber wenig zum Essen, wir waren immer hungrig.

Unsere Arbeit war sehr schlecht bezahlt. Ich und noch ein Mädchen gingen an den Ruhetagen zur Arbeit, um etwas Geld zu verdienen. Wir putzten in der Wohnung oder arbeiteten im Gemüsegarten.

In der Fabrik über dem Verwaltungsbüro wohnte unser Meister mit seiner Frau. Er machte die Aufsicht über uns und erlaubte uns nicht, mit anderen Leuten zu verkehren.

Sowieso blieben wir im Lager. Wir fürchteten uns vor der Polizei.

Wir waren gezwungen, Zuckerrüben auf dem Bahnhof zu klauen. Dann kochten wir sie und aßen. So überlebten wir diese schwere Zeit.

Manchmal kamen Deutsche zur Erholung in ihre Gemüsegärten, die sich neben der Fabrik befanden. Hinter dem Stacheldraht wuchsen Erdbeeren. Dahinter befand sich ein Kraftwerk [Wesertal], das Strom lieferte und das von den Amerikanern bombardiert wurde.

Leider habe ich weder [Dokumente], Fotos noch Briefe aus der Zeit. Ein alter Deutscher, der an einer Werkzeugmaschine arbeitete, hat mir einen hölzernen Pilz zum Stopfen ausgeschnitten und sagte:

„Nimm, Mariechel, zum Andenken. Das wird Dich in der Ukraine an mich erinnern.“

Ich bewahre diesen Pilz bis jetzt auf.

Die Amerikaner befreiten uns. Zuerst fürchteten wir uns vor ihnen. Sie waren dunkelfarbig; früher hatten wir solche Menschen nie gesehen.

Nach der Befreiung brachte man uns in ein großes Lager [sie meint die Scharnhorstkaserne], dann zur Elbe. Da die Brücke kaputt war, mussten wir über Schiffe auf die andere Seite gehen. Dann kamen wir nach Berlin. Die Fahrt nach Hause dauerte einen Monat.

In meinem Heimatdorf beendete ich die 9. Klasse, dann studierte ich an der Fachschule. Später arbeitete ich im Dorf Stepanowka. Jetzt bin ich Rentnerin, habe vier Kinder.

Auf Wiedersehen. Ich werde Gott bitten, Ihnen Glück und Gesundheit zu bescheren.

Hochachtungsvoll, Sapliwaja Marija Michailowna.


Noch einige Worte zur Erläuterung.

Als um das Jahr 2000 – 55 Jahre nach Kriegsende – die Bundesregierung sich endlich entschloss, die damals noch lebenden Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu entschädigen, gelang es mir, die Anschriften von Personen ausfindig zu machen, die in Hameln hatten arbeiten müssen. Ich schrieb sie an und bekam daraufhin zahlreiche Briefe, insgesamt 120.

Tatsächlich ist das ein winziger Prozentsatz von den über 10.000 Personen, die in Hameln-Pyrmont hatten arbeiten müssen, und doch ein wertvoller Schatz.

Das Grauen, das Hitlerdeutschland im Sommer 1941 gegen die Sowjetunion entfesselte, nennen die Historiker heute Vernichtungskrieg. Dieser Krieg war das Ende jeder Politik, ein Wahnsinn mit Methode. Sein Ziel war eine rassistisch motivierte, völlige Zerstörung von Staat und Gesellschaft durch Massenmord und Versklavung. Dieser Krieg begleitete den Holocaust, die Ermordung von 6 Millionen jüdischer Menschen.

Lebensraum im Osten“ zählte zu den grundlegenden Zielen Hitlers. Der „Generalplan Ost“ sah vor, Osteuropa bis zum Ural als deutsches Siedlungsgebiet in Besitz zu nehmen und die „rassisch unerwünschten“ Einheimischen zu vertreiben.

Gleichzeitig deportierten die deutschen Arbeitsämter über 3 Millionen Menschen überwiegend aus der Ukraine zur Zwangsarbeit.

Wie verlief ihre „Rekrutierung“? Die Arbeitsämter beauftragten in der Regel den Bürgermeister eines Dorfes, eine bestimmte Zahl von Personen auszuwählen. Nicht selten auch gab es Menschenjagden: Polizei umstellte einen Wochenmarkt, ein Kino, und die Arbeitsämter suchten sich gesund aussehende junge Menschen aus.

Auf dem Foto, das die Hamelner Polizei von Marija Sapliwaja bei ihrer Ankunft gemacht hat, trägt sie eine Sommerbluse, auf die das OST-Zeichen geheftet war. Hatte sie überhaupt die Zeit gehabt, geeignete Kleidung mitzunehmen?

Marija hat die Jahre in Hameln unversehrt überlebt. Von den gut 10.000 Menschen, die zur Arbeit nach Hameln-Pyrmont deportiert wurden, starben 670.

Marija hatte auch Glück bei ihrer Rückkehr in die Heimat. Als Kind deportiert, setzten sie die sowjetischen Behörden nicht dem Vorwurf aus, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Sie durfte in ihr Dorf zurückkehren. Und ihr Dorf war vom Krieg verschont geblieben.

Anders als viele ihrer Leidensgenossinnen konnte sie die 9. Klasse der Schule nachholen, um anschließend auf einer Fachschule zu studieren. So hatte der Raub ihrer Jugendjahre bei ihr keine lebenslangen negativen Folgen.

Im Juni 2006 habe ich auf einer Fahrt durch die Ukraine zu ehemaligen Zwangsarbeitern auch Marija besucht. Ihr Dorf lag weit abseits asphaltierter Straßen, war nicht ausgeschildert und schwer zu finden.

Sie war längst Großmutter und lebte mit Mann und Tochter auf einer kleinen Bauernstelle mit etwas Land und zahlreichen Tieren. Sie hatte eine Arbeitsstelle im Kulturpalast gehabt, den es auch in ihrem Dorf gab, und blickte zufrieden auf ihr Leben zurück.

Ich wurde reichlich bewirtet, blieb über Nacht und bekam den Stopfpilz zu Gesicht, den sie aufbewahrt hatte.

Im September 2006 zählte Marija zu der kleinen Besuchergruppe aus der Ukraine, die wir für sieben Tage nach Hameln einladen konnten. Sie kam, nunmehr 79 Jahre alt, in Begleitung einer Enkelin.

Etwas verloren und ratlos stand sie auf der leeren Fläche am Hastenbecker Weg, auf der sich einmal die Fabrik Sinram & Wendt befunden hatte. Nur noch die Villa des Fabrikanten war erhalten. Zweieinhalb Jahre ihrer Kindheit und Jugend hatte sie hier verbracht, eine harte Zeit. Sichtlich genoss sie, noch einmal an diesen Ort zurückkehren zu können. 64 Jahre später war alle Bitterkeit aus ihr verschwunden.

Später kamen noch einige Briefe von Marija. Irgendwann blieben diese aus. Heute wäre sie 97 Jahre alt.

Ich wollte in diesen genügend schwierigen Zeiten ein Schicksal zeigen, das einen guten Ausgang genommen hat.

Bernhard Gelderblom

Zeitungsausschnitte DEWEZET zum Kriegsbeginn:

herral, 02.09.2024


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