Gastbeitrag / Gegenkommentar zu: „Ein Versuch mit der Brechstange“, Th. Timm, Chefredaktion, DeWeZet vom 10. Mai 2023

Hameln, 19.05.2023: Andreas Hausotter von der Initiative „Rad-Verkehrswende Hameln JETZT“ mit einer Replik auf einen Kommentar von Thomas Thimm zum geplanten Verkehrsversuch in der Deisterst. in Hameln.


Text von TT in kursiv und Antwort AH:

TT: Es geht also ans Eingemachte: Die Deisterstraße wird für einen sechsmonatigen Test stadteinwärts von zwei Fahrspuren auf dann nur noch eine verengt. Hintergrund ist, dass dort ein Radweg eingerichtet werden soll – mehr Klimaschutz, weniger Kohlendioxid lautet die Losung derjenigen, die das befürworten. Die Gegner dieses Tests warnen dagegen vor einem Verkehrskollaps mit viel Stau.

AH: Wenn es überhaupt zu einem Stau kommen sollte – dies hängt entscheidend vom Verkehrsaufkommen ab! – so bildete sich ein Rückstau aus Osten vor (!) der Einfahrt in die Innenstadt. (Dieser Rückstau wiederum könnte die Verkehrsbelastung im Bereich der Kernstadt sogar reduzieren.)

TT: Da die Straße nicht dehnbar ist, bietet ein Mehr für die einen, hier Radfahrer, logischerweise automatisch ein Weniger für die anderen, hier Autofahrer, Taxi-Fahrer, Lkw-Fahrer, Busfahrer.

AH: Im Bereich der Deisterstraße kann von einem „Mehr“ für Radfahrende wohl kaum die Rede sein: Hier gibt es zurzeit nur ein Nichts für Radfahrende.

TT: Der Test auf der Deisterstraße ist deshalb so sehr umstritten, weil hier gleich mehrere Interessen aufeinanderprallen. So heißt es hier in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur Radfahrer gegen Autofahrer, sondern auch Klimaschutz gegen Mobilitätswunsch.

AH: Soll der Klimaschutz gegen den Mobilitätswunsch ausgespielt werden? Niemand stellt den „Mobilitätswunsch“ infrage. Warum wird hier eine künstliche Konfrontation aufgebaut? Es geht doch um die geeignete Verkehrsmittelwahl (MIV vs. ÖPNV vs. Rad), also darum, wie im Interesse des Klimaschutzes der Anteil Radfahrender erhöht werden kann.

TT: Mobil sein zu können, gehört zu den ureigensten Wünschen.

AH: Das stellt auch niemand infrage.

TT: Sich das Mittel der Mobilität frei zu wählen, gehört zur Selbstverständlichkeit einer modernen Gesellschaft.

AH: Die im Rahmen der Verkehrswende angedachten und bereits begonnenen Maßnahmen der Verwaltung befördern gerade diese als selbstverständlich betrachtete Wahlfreiheit, indem die Möglichkeit geschaffen wird, auf das Rad zurückzugreifen. Heute ist in vielen Stadtteilen gerade für Kinder, Schülerinnen und Schüler und ältere Menschen allein aus Sicherheitsgründen das Rad keine empfehlenswerte Alternative. Wenn allerdings die „Wahlfreiheit“ bedeutet, stets auf das Auto zurückgreifen zu wollen, so ist das nur möglich, wenn die Folgen dieser „Selbstverständlichkeit“ außeracht gelassen werden. Anders ausgedrückt: Die Konsequenzen, die sich aus diesem Anspruch ergeben, werden erst in mehreren Jahren zu spüren sein, also den nachfolgenden Generationen aufgebürdet. Dies halte ich daher für einen überkommenen, aus der Zeit gefallenen Anspruch.

TT: Zu dieser Moderne gehört jedoch auch, die eigenen Interessen nicht unabdingbar über die aller anderen zu stellen – was übrigens für Auto- wie auch für Radfahrer gelten sollte.

AH: Hier wird ein Nebeneinander auf Augenhöhe suggeriert. Davon kann bisher nicht die Rede sein. Noch immer hat der MIV Priorität vor den anderen Verkehrsmitteln. Dieser Vorrang manifestiert sich u.a. im Flächenverbrauch (Straßen, Parkplätze), in den Schaltungen der Lichtsignalanlagen (Grüne Welle für den motorisierten Verkehr, mehrfaches Warten für Fußgänger und Radfahrer an Kreuzungen) und nicht zuletzt im Verletzungsrisiko für Fußgänger und Radfahrende bei Unfällen mit PKW-Beteiligung).

TT: In einer idealen Welt würden wir uns vermutlich vernünftig verhalten und klimaneutral fortbewegen. Da wir jedoch nicht in einer idealen Welt leben, fordern die Befürworter, dass sich gerade deshalb mehr Menschen per Fahrrad und weniger mit dem Auto fortbewegen sollten. Nun ist es ja aber so, dass, selbst wenn die Deisterstraße auf eine Spur verengt wird, der Verkehr, die Autos, Lkw und Busse, nicht weg ist. Sie sind weiterhin vorhanden und fahren durch die Stadt. Sie rollen halt nur nicht nebeneinander durch die Deisterstraße, sondern hintereinander. Die Autoschlange wird also schmaler, dafür aber länger. Die mantraartige Forderung der Radfahr-Lobby, dass die Autofahrer doch bitteschön ihr Auto stehen lassen und aufs Rad umsteigen müssen, mag ja in dem einen oder anderen persönlichen Fall fruchtbar sein.

AH: Wer ist „die Radfahr-Lobby“. Wer verlangt den 100%igen Umstieg aufs Rad? Es geht um die Veränderung des Modal Split zugunsten des Radverkehrs.

TT: Doch erstens klingt dieser Appell meistens eher wie ein Erziehungsversuch, wodurch er sich dann selbst disqualifiziert. Und zweitens lässt diese Forderung außer Acht, dass hierzulande eben die meisten Wege der Menschen nicht mit dem Fahrrad zu erledigen sind.

AH: Woher kommt diese Einschätzung? Lässt sie sich quantitativ belegen? Wer sind „die Menschen“? Was sind die „meisten“ Wege. [Hier sollten die Zahlen aus der Baum-Studie der Stadt Hameln herangezogen werden.]

TT: Beispiel Arbeit: Arbeitnehmer legen in Deutschland im Schnitt eine Strecke von knapp 17 Kilometern zurück – in einer Großstadt mit U-Bahn oder Tram kein Problem, aber hier im Weserbergland ist es nicht ernsthaft möglich, dass alle oder wenigstens die meisten für diese Strecke das Auto stehenlassen und sich täglich bei jedem Wind und Wetter aufs Rad schwingen.

AH: M.E. ist es nicht sinnvoll, Durchschnittswerte für das gesamte Bundesgebiet heranzuziehen. Da müsste man schon Statistiken aus vergleichbaren Kommunen heranziehen.

TT: Beispiel Einkauf: Die ältere Dame soll ihren schweren Wocheneinkauf nunmehr mit dem Rad erledigen? Geht nicht.

AH: Es geht nicht, weil durch nicht vorausschauendes Verbraucherverhalten (Geiz ist billig!) dem Einzelhandel in den kleinen Ortschaften und Ortsteilen die wirtschaftliche Grundlage entzogen wurde. Beispiel: Bis etwa 2007 gab es in Halvestorf und Hemeringen Edeka-Läden, die – natürlich – preislich nicht mit den Discountern an der Hamelner Stadtgrenze konkurrieren konnte. Ein Erhalt dieser Geschäfte etwa durch bewusstes Einkaufen hätte die Läden am Leben erhalten können. Stattdessen wurden die Fahrten zur Arbeitsstelle verbunden mit einem Einkauf in den Supermärkten am Stadtrand von Hameln. Es war ja so praktisch und auch viel günstiger. Auch hier zeigen sich – wie beim Klimaschutz – die Konsequenzen nicht zu Ende gedachten Verhaltens erst nach Jahren.

TT: Beispiel Besorgungen: Der Papa vom Lande, der sein Kind an einer Hamelner Schule rauswirft, selbst noch diverse Besorgungen, Termine, Arbeiten zu erledigen hat, das Kind nachmittags wieder einsammelt, um ihm eine längere Busfahrt zu ersparen, soll er das alles mit dem Rad machen? Geht auch nicht.

AH: Warum nutzt das Kind nicht den ÖPNV/Schülerverkehr? Oder das Rad?, wenn es denn einen sicheren Schulweg gibt.

TT: Es gibt kurze Wege in der Stadt, die mit dem Fahrrad erledigt werden können – wenn man möchte. Und ja, wir brauchen sichere Radwege, her und dort auch Fahrradstraßen. Und bitte; Wir brauchen auch Fahrradstraßen, die nur den Radfahrern „gehören“ und in den Autos dann eben nichts zu suchen haben. In Hameln wird jedoch immer wieder versucht, alle Verkehrsteilnehmer auf eine Straße zu quetschen – auch dort, wo Entzerrung viel ratsamer wäre.Das Hamelner Mobilitätsthema ist komplex. Was es braucht, sind kluge Ansätze und vor allem auch ein Gesamtkonzept, das alle einschließt.

AH: Ohne Frage braucht es kluge Ansätze – die sind auch vielfältig vorhanden (siehe Green City Plan und ISEK 2030) – und auch ein Gesamtkonzept, das die klugen Ansätze integriert. Genau das ist einer unserer Kritikpunkte.

TT: Was es nicht braucht, sind Ansätze mit der Brechstange. Der Deisterstraßen-Radspur-Versuch ist eine Brechstange. Hier wird versucht, auf einer der am stärksten befahrenen Straßen Hamelns eine Radfahrspur durchzudrücken.

AH: Ein Modellversuch ist keine Brechstange. Es ist ein Test mit einem durchaus offenen Ausgang.  Die gewonnenen Erfahrungen dienen der Vorbereitung einer nachhaltigen Lösung.

TT: Und das, obwohl es 240 Meter daneben bereits eine Fahrradstraße gibt.

AH: Die genannte Fahrradstraße ist nicht Teil einer schnellen Verbindung zwischen Altstadt und Bahnhof. Welcher Autofahrer akzeptiert einen Umweg, wenn es auch eine direkte Verbindung gibt? 

TT: Aber sei’s drum: Versucht macht klug. So oder so.


Der DEWEZET ist hier veröffentlicht: https://www.dewezet.de/redaktionskommentare_artikel,-deisterstrasse-ein-versuch-mit-der-brechstange-das-wird-nicht-lustig-_arid,2803368.html

2 Gedanken zu „Gastbeitrag / Gegenkommentar zu: „Ein Versuch mit der Brechstange“, Th. Timm, Chefredaktion, DeWeZet vom 10. Mai 2023“

  1. Chapeau, eine gelungene Replik (ich musste erstmal nachschlagen).
    TT bedient sein Klientel, bzw. gehört schon selber dazu.
    Mutige Experimente müssen sein – sonst gibt es keine Veränderung!

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