Gastbeitrag: „Wie der Tod von drei Soldaten missbraucht wurde.“

Hameln, 20.08.2023: Ein Kriegerdenkmal wird zum Lernort. Text von Bernhard Gelderblom.

Der Befehl des NSDAP-Gauleiters Hartmann Lauterbacher, die US-Streitkräfte an der Weser aufzuhalten, erwies sich für Hameln als verhängnisvoll. Als die US-Soldaten aus Westen vorrückten, sprengte die Wehrmacht am frühen Morgen des 5. April 1945 die Weserbrücken. Trotz militärisch aussichtsloser Lage sollte die Stadt verteidigt werden. Dies verzögerte das amerikanische Vorrücken jedoch kaum. Nach schwerem, zweitägigem Beschuss nahmen die US-Truppen die Stadt ohne Gegenwehr ein.

Noch lange nach Kriegsende – bis 1955 – standen auf dem Hamelner Hausberg Klüt drei mit den Namen Oskar Weihe, Otto Drebenstedt und Anton Gradwohl versehene hölzerne Kreuze. Das Schicksal dieser Soldaten hat die Bevölkerung nachhaltig beschäftigt.

Ein Harry Nadrowski schrieb 1950 in der Dewezet: Die Drei hätten sich 1940 als „junge Studenten“ bei einer Paddeltour auf der Weser kennengelernt und bei einer Besteigung des Klüt geschworen, „daß wir uns … hier auf dem Klüt einmal wieder treffen“. Und so seien sie – nach Jahren der Trennung – ausgerechnet Ostern 1945 auf dem Klüt gemeinsam „als Freiwillige auf Patrouille gegen den Feind“ gegangen und hätten dabei den Tod gefunden. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass hier nichts als freie Phantasie waltete.

Hellmuth Henke schilderte wenig später einen langen, heldenhaft geführten Kampf, bei dem auch Panzerfäuste eingesetzt worden seien, ohne glaubhaft zu machen, wie er Zeuge der zahlreichen Einzelheiten werden konnte, die er beschrieb. „Voll kühner Entschlossenheit“ hätten die Drei gekämpft, getreu dem soldatischen Eid, den sie geleistet hätten. Mit ihrem „Opfer“ seien sie „Künder ihrer Zeit“ geworden.

1951 veröffentlichte die Dewezet ein 13 Strophen langes Gedicht. Der Verfasser Peter Bruno Richter war Spielleiter des Hamelner Theaters, ein Mann also, dessen Stimme in der Stadt Gewicht hatte. Als Sonderdruck fand das Gedicht eine weite Verbreitung.

Vor der Alternative „Verrat oder Eid“ stehend, hätten sich die drei Soldaten klar entschieden:

„Ein sterbendes Land und kein Mensch weit und breit, der uns hätte sagen können: Tut so! –

Drum waren wir fast so etwas wie froh über peitschende Schüsse – und sickerndes Blut.

Ein Wähnen und Trügen war aus – Das war gut. –

Hands up!!! Schrie man her. Wir hoben sie nicht. … Wir sahen, versinkend, nur eins noch – die Pflicht!“

Nur in Klammer gesprochen: Kann man „froh über peitschende Schüsse – und sickerndes Blut“ sein?

Die drei Versionen widersprechen sich in Einzelheiten, sind sich aber darin einig, dass hier drei Soldaten heldenhaft gegen die Übermacht der US-Armee gekämpft hätten.

Die unmittelbaren Nachkriegsjahre zeugten erstaunliche Legenden. Nicht wenige Deutsche hatten sich bis zum Ende eine Niederlage im Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht vorstellen können. Und da die Niederlage nun offenkundig war, so mussten Verrat, Pflichtvergessenheit und Eidbruch im Spiel gewesen sein.

Auf diesem Hintergrund wurde der Tod der drei Soldaten glorifiziert, wurden sie zu Helden gemacht und missbraucht. Hätten alle so tapfer gekämpft wie die Drei, wäre Deutschland die Schande erspart geblieben. Umgekehrt wurden damals Emigranten wie Willy Brandt oder Thomas Mann als Verräter und die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als Eidbrecher beschimpft.

Tatsächlich handelte es sich bei den drei Männern um versprengte Soldaten, denen wegen der sinnlosen Zerstörung der Brücken der Fluchtweg über die Weser abgeschnitten war. Sie dürften so kurz vor dem Ende nur eines im Sinne gehabt haben, nämlich ihre Haut zu retten. Das jedenfalls legt ein Leserbrief der Wirtin des Klüt-Gasthofs, Frau Schöneberg, vom 14. März 1950 nahe.

Frau Schöneberg hatte zwei der Soldaten frühmorgens noch lebend gesehen. Zum Kampfgeschehen, das sie aus unmittelbarer Nähe mitbekommen hat, hält sie fest:

„Alle drei sind durch amerikanische Maschinenpistolkugeln gefallen, fast an der Stelle, wo sie begraben liegen. Sie waren auch wohl gleich tot.“

Es hat also nur einen kurzen, einseitigen Kampf gegeben. Von den US-Soldaten überrascht, hatten die Männer auf der Spitze des Klüt mangels Deckung kaum eine Chance, sich zu verteidigen oder zu flüchten. US-Opfer hat es nicht gegeben. Im sehr ausführlichen Kriegstagebuch der US-Armee zum 5. April findet der Vorfall überhaupt keine Erwähnung.

Frau Schöneberg hielt Kontakte zu den Familien der Toten. Angehörige besuchten die Gräber; mit einer Mutter stand sie in Briefkontakt. Mitgefühl bewegte sie. Sie schloss ihren Leserbrief mit den anrührenden Sätzen:

„Manche Mutter und manches Kind besucht in dem Grab ihre Toten und es sind stets frische Blumen und Kränze darauf zu finden, sehr oft mit Grüßen an die in fremder Erde gebetteten Angehörigen.“

Drei Jahre – bis 1955 – herrschte Ruhe um die drei Kreuze. Damals exhumierten der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge und die Stadt Hameln verstreut in der Landschaft liegende Soldatengräber und betteten sie auf den Friedhof Am Wehl um. Dies hatte nun auch „die drei Getreuen“ vom Klüt getroffen und wurde Auslöser einer erneuten Debatte.

In zwei gleichzeitig veröffentlichten Leserbriefen beklagten ein Rechtsanwalt Dr. Bury und Generalleutnant a.D. Wilhelm Thomas, Landesvorsitzender des Verbandes deutscher Soldaten, die Umbettung und verlangten, da diese nun nicht rückgängig zu machen war, stattdessen einen Gedenkstein zu setzen. Unterstützt von der Dewezet forderten sie zur Sammlung von Spenden auf.

Bereits ein gutes halbes Jahr später, bewusst am Vorabend des 17. Juni 1956, des noch jungen Feiertags der deutschen Einheit, wurde das Denkmal in Gestalt eines Findlings eingeweiht. Initiatoren waren die Soldatenverbände Hamelns, darunter der Kyffhäuserbund und der Stahlhelm, beide rechtsextrem.

Der Findling erhielt neben den Namen die Inschrift „Sie starben im Glauben für das ganze Deutschland“. Die Geburtsorte der drei Männer (Danzig, Graz, Magdeburg) seien „ein Sinnbild unseres größeren Vaterlandes deutscher Zunge“ und „der Einheit deutschen Blutes“.

Als sie 1945 starben, hatte die staatliche Einheit Deutschlands noch gar nicht in Frage gestanden. Nun in Zeiten des Kalten Krieges wird ihr Tod zum „Mahnmal gegen die Zerrissenheit der Lebenden“. Die Geburtsorte sollen ein Zeichen gegen die Teilung Deutschlands und den Verlust der Ostgebiete sein. Damit wird der Tod der drei Männer erneut missbraucht.

Bei der Feierstunde folgte Hamelns Oberbürgermeister Janssen dieser Deutung und nahm den Ort in die „Obhut“ der Stadt, die seitdem dort jährlich zum Volkstrauertag einen Kranz niederlegte. Janssen gehörte als Mitglied der Deutschen Partei (DP) dem konservativen Lager an, das damals im Stadtrat eine deutliche Mehrheit hatte.

Vor seiner Enthüllung hatte eine „Reichskriegsfahne“ den Stein bedeckt. Die schwarz-weiß-rote Fahne stand wie schon in Weimarer Zeiten für die Ablehnung der „Republik“ und ihre Farben Schwarz-Rot-Gold. Sie war ein rechtsextremes, militaristisches Symbol und brachte ein rückwärtsgewandtes, von Revanchegedanken bestimmtes Erinnern zum Ausdruck.

Im selben Jahr 1956 forderten Hamelns Soldatenverbände die Errichtung eines städtischen „Ehrenmals“. Vergeblich wandten Kritiker ein, dass auf dem Friedhof Am Wehl und im Innern des Münsters schon Ehrenmäler existierten. Grundsätzlichen Streit gab es um die Frage, ob das Denkmal auch an die Opfer des NS-Regimes erinnern sollte. Dafür setzten sich Teile der SPD. Die Soldatenverbände, die u.a. mit General Thomas vertreten waren, lehnten dies ab. In den KZs hätten auch Kriminelle gesessen. Sie setzten sich am Ende durch. Das Ehrenmal hinter dem Hamelner Münster ist nicht den Opfern des NS-Regimes gewidmet.

Es brauchte die Dauer einer ganzen Generation, um die Niederlage 1945 als das zu verstehen, was sie wirklich war. In seiner berühmten Rede von 1985 sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1945 als einem „Tag der Befreiung“ vom NS-Regime. Dessen Beseitigung war die Voraussetzung, damit Westdeutschland demokratiefähig wurde. Seitdem stellte sich die deutsche Gedächtnispolitik um. In der Folge entstanden auch in Hameln Orte, welche die Opfer in den Blick nahmen.

Fast 50 Jahre herrschte Ruhe um das Denkmal auf dem Klüt, bis es 2002 wieder Schlagzeilen machte. Unbekannte hatten die Bronzebuchstaben abgeschlagen und nach der Restaurierung den Findling vom Sockel gestoßen. Die Dewezet sprach von den Tätern als von „Vandalen“. Die naheliegende Frage, ob sich hinter den Vorfällen ein – zugegeben brachialer – Protest verberge, mochte damals niemand stellen. Zwanzig Jahre später, 2022, wurde die Bronzetafel mit blauer Farbe besprüht, nachdem die Dewezet zuvor Kritik an der Inschrift geäußert hatte: sie wirke „aus der Zeit gefallen“.

Das veranlasste die Stadt, zusammen mit dem Volksbund für Kriegsgräberfürsorge und dem Historiker Bernhard Gelderblom ein Schulprojekt zu beginnen und dem Denkmal eine kritische „Geschichts- und Erinnerungstafel“ an die Seite zu stellen.

Im Laufe ihrer Beschäftigung schlugen die Schülerinnen und Schüler des Geschichtskurses des 11. Jahrgangs der IGS Hameln eine alternative Inschrift vor. Sie lautet:

„Die drei gefallenen Soldaten sind ein Sinnbild für die Brutalität und Sinnlosigkeit des Zweiten Weltkriegs. Der Gedenkstein soll ein Mahnmal gegen den Krieg sein“.

Aus einem Ort der Heroisierung der Toten und des Krieges ist nun ein Lernort geworden.


Die am 19. Juni 2023 eingeweihte „Geschichts- und Erinnerungstafel“ auf dem Klüt

Foto: Gelderblom 2023 und 2020


Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Herral, 20.08.2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.