Zeitzeugenbericht: Kriegskindheit und Nachkriegsdeutschland aus eigenem Erleben. Günter Bialkowski stellt sich vor:

Hameln, 28.06.2025: Der Gastbeitrag von Günter Bialkowsiki „Ist die AfD eine Nazi-Partei“ hat überdurchschnittlich viele Leser erreicht. Ich habe danach mit Günter vereinbart, dass er auch etwas über sich selber und seine Beweggründe beim Boten zu schreiben berichtet. Hier der erste Teil:

Lieber Günter, magst du dich mal selbst kurz beschreiben. Wo kommst du her, wo lebst du? Wer ist der Mensch, der hier regelmäßig Gastbeiträge zum Nachdenken beim Boten bereitstellt?

„Meine Heimat ist das Ruhrgebiet. Im Februar 1937 in eine Arbeiterfamilie Gelsenkirchens hinein geboren, Vater arbeitete im Kesselhaus der Zeche Alma, ist mir das Arbeitermilieu „Auf Kohle geboren“ in die Wiege gelegt. Meine Mutter durfte ich nur kurze Zeit behalten. Sie starb 1940 an Tuberkulose, die damals im Ruhrgebiet grassierte und viele Menschenleben forderte, ich war knapp vier Jahre alt. Die Nazis waren im Reich fest etabliert und wie man heute weiss, griffen intern schon die Kriegs-Vorbereitungen auf den Überfall auf Polen.

1940/41 – als schon die ersten Bomben Gelsenkirchen erreichten, bekam ich und mein drei Jahre älterer Bruder noch völlig unter Schock stehend, vom Roten Kreuz des Reiches eine Pappe mit einer Zahl umgehängt und ab ging es in die Kinderland-Verschickung zunächst nach Niederbayern, später nach Oberbayern, nahe der Grenze zu Tirol, die allerdings nicht existierte. Hier im Inntal-Dreieck waren ca. 1.000 Kinder z. T. mit ihren Müttern evakuiert. Wir lebten mit einer jungen Stiefmutter, die Vater noch kurz vor seiner Einberufung geheiratet hatte. Sie war uns völlig fremd, aber das interessierte damals niemanden. Sie war kein guter Mensch – nur mit Grauen erinnere ich mich an diese Zeit. Wir waren Halbwaisen, in Wirklichkeit waren wir gefühlt Vollwaisen, denn von 1941 bis Ende 1949 lebten wir ohne Eltern und Verwandte mit ständig wechselnden Bezugspersonen. Vater half als Soldat der Wehrmacht auf dem Balkan bei der Partisanenbekämpfung. In diesem Umfeld lebten wir gemieden von den Einheimischen, gingen zur Schule, wenn es denn Mal keine Tiefflieger-Angriffe gab. Zum Schluss unterrichtete uns ein junges BDM-Mädchen in ihrer Uniform.

Die Stunde Null erlebte ich in Oberbayern, sah hier zum ersten Mal furchtbar abgemagerte, in Lumpen gehüllte Menschen. Später begriff ich dass es umherirrende KZ-Häftlinge, wohl auch Juden waren, die ihren Todes-Märschen entkommen waren. Und ich sah erstmalig farbige Amerikaner, die freundlich waren und uns Schokolade, Apfelsinen und Bananen schenkten. Um unser Haus herum kurvten mehrere Wochen US-Lastwagen auf der Suche nach Nazi-Militär das aus Italien kommend sich hier in den Bergen verbergen wollte. Unsere Heimreise ins zerstörte Ruhrgebiet erfolgte im September 1945 im Viehwagon. Sie sollte mehrere Wochen dauern, denn die Bahnhöfe waren fest in den Händen der feiernden, betrunkenen Sieger. Beängstigend waren besonders für Frauen/Mütter die Nächte, da kam es zu Vergewaltigungen. Immer wieder wurden unsere Wagone auf Abstellgleise geschoben und manchmal auch vergessen.

Zuhause angekommen, war unsere Straße in GE-Ückendorf unbeschädigt, aber von Bombengeschädigten besetzt. Innerlich hatten wir längst kein Zuhause mehr, aber wem konnten wir unser Leid schon klagen? Später sollten einige private AutoRinnen vom Leid der verlorenen Kinder schreiben. Aller Anfang war schwer, ich war inzwischen neun, Bruder Hans 12 Jahre. Wir hatten auf Grund unsere Erlebnisse und schlechten Erfahrungen während all der Gräuel die Wahl entweder kriminell zu werden oder weiter passiv zu leiden. Behörden oder staatliche Fürsorge Fehlanzeige, alles war in Auflösung, manchmal empfand ich die Wirklichkeit direkt nach 1945 bis Anfang der 1950er Jahre genauso grausam wie den Krieg selber. Besonders weil unser eigenes Ich erwachte und wir psychisch langsam unsere Lage erfassten und moralisch unsere unmittelbare Umwelt zu beurteilen begannen. Alles was auch nur im entferntesten Sinne nach Liebe oder Fürsorge hätte aussehen können, war uns fremd. Jeder kannte nur noch sich selbst. Überleben war angesagt, das mussten wir Kinder sozusagen im Schnelltest lernen und anwenden. Von einer behüteten Kindheit, wie wir sie heute unseren Kindern und Enkelkindern bieten können, waren wir meilenweit entfernt. Es folgten vier Jahre Katholisches Waisenhaus an der Ah-Str. GE-Mitte. Die Stiefmutter war an einem Kaiserschnitt verstorben. Auch hier kämpften wir gegen Hunger und Kälte, es gab kaum Kleidung, noch weniger zu essen. Aber hier gab es keine Prügel und die Ordens-Schwestern waren gut zu uns und nur das zählte.

Unsere ziellose Odyssee durch Kriegs- und Nachkriegszeit ging Ende 1949 zu Ende. Ein abgemagerter, fremder Mann der sich als unser Vater vorstellte betrat die Bühne. Tito, der sich in Jugoslawien vom Partisanenführer zum Staatschef emporgearbeitet hatte, hat viele deutsche Kriegsgefangene bis 1949/50 in den Bergwerken arbeiten lassen und schließlich entlassen. Nun war er da und wollte seine Rolle als Vater wieder einnehmen. So als sei nichts gewesen. Mit der Entfremdung, die mit einer kaum beschreibbaren Kälte, ja mit Misstrauen unterlegt war, hatten wir noch Jahre zu kämpfen. Mir selber dämmerte immer mehr: Das, was ich und mein Bruder, unsere ganze Kindergeneration damals erlebt haben, darf sich nie mehr wiederholen.

Und so begann am 15. September 1949 mit der Wahl von Dr. Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der jungen Bonner Republik, ein Neuanfang in Deutschland. Allgemeine Stimmung, noch ohne Umfrage-Institute: ein Gemisch aus Resignation, niemand wollte Nazi gewesen sein, Verdrängung. Mit den ersten hoffnungsvollen Erwartungen begann auch das große kollektive Schweigen. Was gewesen war sollte für Jahre in ein gesellschaftliches Tabu konserviert werden. Es war aber auch die Zeit, in der sich das „Nie Wieder“ als kollektive Erfahrung eines geschundenen und in die Irre gelaufenen Volkes bildete! Allerdings – nicht alle sahen das so. Ein nicht unerheblicher Teil blieben ihrer toxischen Naziideologie treu und beeinflussten das sich neu entwickelnde demokratische Leben je nach Stellung, auf die sie Kanzler Adenauer beließ. Allen Widerständen zum Trotz berief sich Adenauer immer wieder auf die Erfahrung und Kontinuität seiner Alt-Nazis, auf die er nicht verzichten wollte!

Heute lebe ich mit meiner Frau in Hameln, die ruhige und schöne Mittelstadt im Weserbergland ist seit 2018 unsere Wahlheimat. Meine Erfahrungen als Kind und Heranwachsender haben mich geprägt. Bin seit her ein kritischer Mensch geworden. Anders als Angela Merkel, die laut deutscher Presse alles vom Ende her bedacht hat, bedenke ich auch immer den Vorlauf! Und in Bezug auf das Anwachsen der AfD auf 23 Prozent seit 2015 haben wir allen Grund auch wg. unserer jüdischen Minderheiten auf die Vorgeschichte zu achten.

So sorge ich mit meinen Beiträgen im Hamelner Bote auf meine persönliche Art dafür, dass die Zeit damals nicht vergessen wird und sie einigermaßen authentisch rüberkommt. Nicht zuletzt deshalb stelle ich mich gern diesem Interview. Wobei ich mir wünsche, dass möglichst viele unserer jungen Menschen dieses Interview lesen und begreifen, was sie z.B. mit unserer Demokratie alles verlieren würden, wenn sie nicht aktiv für sie eintreten werden.

Günter Bialkowski

herral, 28.06.2025

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