Hameln, 29.09.2025: Hier der fünfte und letzte Zeitzeugenbericht von Günter Bialkowski.
Unsere Übersiedlung von Fellbach bei Stuttgart nach Reutlingen (RT), lag nun schon einige Zeit zurück. Es muss Ende Sept. 1976 gewesen sein. Die Kinder, meine ganze Familie versuchten mit der Umstellung zurecht zu kommen. Das Abenteuer in Fellbach beim Wohlfahrtswerk von Baden-Württemberg einem freien Träger anzuheuern, war für mich denn doch eine Nummer zu groß. Das Heim am Kappelberg war dreigliedrig, umfasste ca. 190 Bewohner. Allein der Wohnturm beherbergte ca. 103 Altenheimplätze, dazu kam die stationäre Pflege mit 77 Betten, 22 Selbstversorger in Wohn-Appartements und 68 Mitarbeiter. Mein Arbeitstag reichte von morgens 9.00 h bis abends 20.30 h. Das war für mich nicht zu schaffen. Die Familie, die Kinder kamen einfach zu kurz. Und so ging ich auf einen Vertrag mit der Stadt Reutlingen ein, dass wir hier ca. 20 Jahre verbringen würden, wusste ich damals noch nicht. Aber in der Rückschau waren die Zeit in Fellbach und hier in RT eine der schönsten und was mich betrifft, eine der produktivsten Phasen meines Lebens. Wir kauften uns ein altes Fachwerkhaus auf der Schwäbischen Alb, ich renovierte und erneuerte es über Jahre. Ging meinem Beruf als Heimleiter nach und meine Frau arbeitete als Wirtschafterin. Insgesamt halfen uns einige Vollschicht-Mitarbeiterrinnen und ein männlicher Azubi. Nebenbei gab ich ca. 9 Jahre bei der VHS Kurse für „Keramisches Gestalten“, weil ich hier ein bis dahin unentdecktes schöpferisches Talent bei mir entdeckt hatte.
Etwas später feierten meine Inge und ich oben auf der Alb unsere Silberhochzeit in unserem fast schon fertigen Eigentum. Meine Inge sang im Chor und dieser Chor brachte die richtige Stimmung mit und sang uns das Silber-Ständchen. Es ist ein unvergesslicher Tag geworden. Der jüngste unserer Söhne, Lars machte hier auf dem Hermann-Hesse-Gymnasium sein Abitur und besuchte sodann die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen, er schloss mit dem Diplom-Kaufmann ab. Frank studierte in Ludwigshafen den Studiengang Betriebswirtschaft ebenfalls mit einem Diplomabschluss. Auf diesen Mehrwert den uns unsere Söhne ins Haus brachten waren wir besonders stolz.
Der Dienst mit und am alten Menschen machte uns viel Freude, war aber auch anstrengend, weil ich als Heimleiter mit der Familie ein schmuckes Fachwerkhaus auf dem Heimgelände bewohnte, war er aber auch an eine ständige Rufbereitschaft gekoppelt. Das förderte mit der Zeit die Unzufriedenheit, denn ich musste häufig nachts Sterbebegleitung leisten. Damit war die Verantwortung auch fachlich für die Stadt als Träger geregelt. Heute würde eine solche Regelung kein Heimleiter mehr akzeptieren. Aber damals war vieles anders als heute.
Was ich ansonsten durch den General Anzeiger und einen reichhaltigen Kulturbetrieb mit bekam: RT hat eine lange Reichsgeschichte, hatte zwei berühmte Söhne, einmal Gustav
Werner mit seinem Stiftungswerk und den Holzschnitzer, Kunstdrucker und bildenden Künstler HAB Grieshaber. RT war um die Jhd-Wende eine Industriestadt und hatte noch zu meiner Zeit eine große Arbeiterschaft, davon viele Frauen, einige lebten auch in „unserem“ Altenheim „Unter den Linden“. Interessant war auch die Sprache, reines Schwäbisch. Für uns Gelsenkirchener anfangs schwer zu verstehen, aber merkwürdig – selbst unsere Kinder konnten nie schwäbeln. Alles in allem war RT eine tüchtige Unternehmer-Stadt, Wirtschaft, Stadtverwaltung und Parteien, noch ohne rechte Gruppierungen taten aber auch viel für soziale Projekte und sorgten für ein breites Freizeitangebot. In RT florierte der Tourismus, die Stadt war ein Werbeträger, sah sich als Tor zur Schwäbischen Alb. Zu unserem Haus auf ca. 750 Meter Höhe brauchten wir 25 Autominuten.
Gerne gehe ich hier nochmals auf die Anfangsfrage diese Interviews ein. Ralf fragte nach meinen Erfahrungen, Motiven und warum ich mich gegen rechtes Gedankengut engagiere, so in etwa?
Nun – ich denke einiges ergibt sich aus diesem Interview selbst. Mein Grund-Vertrauen, das jedes Kind mitbringt, wurde damals gründlich zerstört. Habe Erfahrungen machen müssen die nur ein Krieg hervorbringen kann. Von einem gewissen Punkt an, verselbständigt sich der Krieg und die Menschen verändern sich, werden egoistisch, gewaltbereiter, kurz das Menschliche geht verloren. Wenn es keine Behörden, keine ehrliche Polizei mehr gibt, wenn neben der Moral auch die Sicherheit kippt, dann herrscht Chaos. Diese Chaos habe ich vor und nach 1945 sehr stark beobachtet und auch physisch erleiden müssen. Die Zeit hat mich skeptisch und kritisch gegen alles was von rechts kommt gemacht. Etwas später kamen die Gräuel an Juden, Sinti und Roma und viele andere ans Licht. Dies war für mich der letzte Auslöser. Deutschland hat eine geschichtliche Lektion erteilt bekommen. Es hat gedauert bis viele dies endlich verstanden haben. Doch heute drehen schon wieder rechte Gruppen und eine Rechtspartei in D. am Rad der Geschichte. Ja selbst in Europa erwacht der Populismus und rechtes Gedankengut fasziniert wieder viele Jugendliche. Ich sehe mich deshalb als Zeitzeuge in der Pflicht mit allen Möglichkeiten die ein einzelner Mensch hat, für unsere freiheitliche Demokratie einzutreten. Und meine Möglichkeit ist bei schwindender Mobilität das Schreiben. Im Hamelner Bote trifft man auf ähnlich gesinnte Menschen, sorgen wir gemeinsam für den Erhalt unseres Gemeinwesens und unsere Freiheit.
Günter Bialkowski
Siehe auch:
Herral, 29.09.2025