Bernhard Gelderblom: Der 9. November 1938 in Hameln

Gastbeitrag auch zum 7. Oktober 2023:

Vor 85 Jahren, am 9. November 1938, brannten in Deutschland 1.400 Synagogen. Tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe wurden zerstört, Hunderte Menschen ermordet und über 30.000 in KZs verschleppt.

Ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath in Paris nahm Propagandaminister Goebbels zum Vorwand für die „Reichspogromnacht“. Er wollte damit den Juden, die nur zögerlich auswanderten, eine „Lektion“ erteilen. Es war eine reichsweite „Aktion“. Goebbels mobilisierte die „Alten Kämpfer“ der SA, die auf eine Gelegenheit warteten, ihren radikalen Antisemitismus auszuleben.

Überall feierte am Abend des 9. November 1938 die örtliche SA den 15. Jahrestag des Hitlerputsches von 1923. Und überall gingen anschließend häufig angetrunkene Männer ans Werk. Das erklärt die besondere Gewalttätigkeit dieser Nacht.

Was geschah in dieser Nacht in Hameln? Für Hameln sind die Vorfälle nie gerichtlich untersucht und keiner der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden. Von Zeitzeugen ist etwas über das Geschehen auf der Straße zu erfahren, aber nicht, wer die Täter waren und wer die Befehle gab.

Neben der städtischen Polizei stand auch die Feuerwehr vor der Synagoge in der Bürenstraße; sie sollte die Nachbarhäuser schützen. Nachdem die Gestapo Archivgut sichergestellt hatte, wurde die Synagoge geplündert und dann in Brand gesetzt. Als das Feuer nicht in Gang kam, half die Feuerwehr. Das Bauwerk brannte schließlich bis auf die Außenmauern nieder.

Die 1879 geweihte Synagoge um 1900 und als Ruine, Quelle: Stadtarchiv Hameln

Während des Brandes und auch an den folgenden Tagen standen zahlreiche Menschen am Brandort, schweigend, wie es heißt. Die Stimmung sei beklommen gewesen sei. Aktivitäten aus der Menge heraus soll es nicht gegeben haben, aber auch keine Proteste.

Wut und Hass trafen auch den Friedhof in der Scharnhorststraße. Mit der Spitzhacke zerhackten Täter aus dem Kreis der Anwohner Grabsteine in Splitter. Die beiden letzten jüdischen Textilgeschäfte wurden geplündert. Auf dem Münsterkirchhof – vor dem Geschäft von Bernstein – brannte ein nächtliches Schadenfeuer.

Jüdische Frauen und Männer wurden aus ihren Betten gerissen und teils in Nachtzeug vor die brennende Synagoge getrieben und gedemütigt. Zehn Männer verschleppte die Polizei in das KZ Buchenwald, zwei überlebten den Aufenthalt nicht. Seitdem herrschte namenlose Angst unter den Jüdinnen und Juden der Stadt.

Der 9. November 1938 steht für die äußerste Verirrung eines Staates: Plünderung, Brandstiftung und Mord vollzogen sich unter aller Augen – ein unerhörter Zivilisationsbruch. Er war der Auftakt zur systematischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, die nach Kriegsbeginn in die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden mündete.

Es ist dieser Zivilisationsbruch, der unmittelbar an das Gemetzel der Hamas am 7. Oktober 2023 denken lässt. Die Pietät verbietet es, sich ein Bild davon zu machen. Aber die Bilder gehen nicht aus dem Kopf; verstärken mit der Zeit ihre Wirkung.

Es ging den Tätern darum, ihre Bestialität aller Welt zu zeigen und sie zu feiern. Diese Taten lassen sich nicht „kontextualisieren“. Sie waren kein Akt des Widerstands oder gar der Befreiung, sondern einfach nur ein Abschlachten, ein Angriff auf das Judentum, auf die Humanität, die Menschheit, auf uns alle. Die, die diese Taten verübten, wussten und wollten, dass sie auf ihr eigenes Volk zurückschlagen würden.

Während nun in Gaza die Gewalt unerhört eskaliert, ist spätestens jetzt bei den Mitgliedern der beiden jüdischen Gemeinden in Hameln die Angst zurück.

Aus Anlass dieses Tages putzen Schülerinnen und Schüler der Elisabeth-Selbert-Schule die in Hameln gelegten 78 Stolpersteine und legen Blumen nieder. Unterstützt werden sie von Angehörigen der evang. Jugend und des Vereins für regionale Kultur- und Zeitgeschichte.

Bernhard Gelderblom



herral, 17.11.2023, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

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