Die Geschichte des Belgiers Augustinus Herreman, genannt Stin, zeitweise inhaftiert im Zuchthaus Hameln, ermordet im KZ Gusen 1945

Hameln, 10.12.2025: Gastbeitrag von Bernhard Gelderblom

Für den Belgier Frankie Aendenhof und seine Söhne Michael und Mitch ist es schon die zweite Reise auf den Spuren des Großvaters bzw. Urgroßvaters Augustinus Herreman (1885-1945). 2019 hatten sie seinen Todesort im KZ Gusen beim Lager Mauthausen in Österreich besucht. Dort verstarb der 59-jährige Stin am 10. Januar 1945, geschwächt von dreijähriger Odyssee durch deutsche NS-Strafanstalten und Konzentrationslager.

Als Stin ist der Schlosser Augustinus Herreman aus dem kleinen, zwischen Antwerpen und Gent gelegenen Ort Hamme bekannt. 1885 geboren bekommt er nach der Heirat mit Celestine Vereecken drei Kinder, darunter Rachel, die Mutter von Frankie. Von 1914 bis 1919 macht er seine ersten negativen Erfahrungen mit Deutschland als Kriegsgefangener im für Belgien fürchterlichen Ersten Weltkrieg. Als NS-Deutschland Belgien 1940 erneut überfällt, betätigt Augustinus sich in der NKB, der konservativ-patriotischen königsnahen Widerstandsbewegung „Nationale Koningsgezinde Beweging“. Die NKB unterstützt Belgier, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit kommandiert werden sollen, sammelt militärische Informationen, hilft untergetauchten Juden und abgeschossenen alliierten Piloten und legt Verstecke für Waffen und Dokumente an.

Am 11. August 1942 wird Augustinus, nachdem ihn eine Nachbarin denunziert hat, von der Deutschen Feldpolizei verhaftet und als Nacht-und-Nebel-Häftling mit der Nummer NN 17397 zuerst in das Gefängnis von Gent eingeliefert und sodann am 23. September 1942 ins Strafgefängnis Bochum überstellt.

Der Nacht- und Nebelerlass war ein „Führererlass“, verordnet am 7. Dezember 1941 als geheime „Richtlinie für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten“. Danach wurden rund 7.000 des Widerstands verdächtige Personen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen nach Deutschland verschleppt und dort heimlich abgeurteilt, ohne dass die Angehörigen irgendwelche Auskünfte erhielten. Ihr spurloses Verschwinden sollte Angst auslösen. Die Angehörigen erhielten keinerlei Information über das Schicksal des Verhafteten. Die Häftlinge durften weder Briefe schreiben noch empfangen. In der Haft wurden sie nicht mit Namen, sondern nach ihrer Nummer benannt. Ihnen drohte die Todesstrafe.

In Bochumer Haft sitzen gleichermaßen Mitglieder patriotisch-königsnaher Résistance-Gruppen als auch kommunistischer Geheimbünde. In einem Interview sagt der überlebende Häftling Gustave Vandepitte, der wie Stin in Bochum und Hameln einsaß, viele seien nicht politisch gewesen, nur patriotisch, ob als Katholiken, Sozialisten oder Liberale. Nur freie Belgier wollten sie sein.

Frankie, Mitch und Michael beginnen ihre zweite Reise auf den Spuren von Augustinus an seinem ersten deutschen Haftort, am Gefängnis Bochum. In Bochum werden sie von Alfons Zimmer, dem ehemaligen Gefängnisseelsorger betreut. Kurzfristig verabreden sie für den 6. Dezember 2025 eine Begegnung. Von außen können die Besucher den Flügel A der Strafanstalt erblicken, in dem 1942 die meisten NN-Gefangenen inhaftiert waren.

Wegen alliierter Bombenangriffe auf Bochumer Industriebetriebe, aber auch auf das nahe gelegene Stahlwerk, entstehen 1942 und 1943 Schäden an der Anstalt; sieben NN-Häftlinge werden getötet; man befürchtet Fluchtversuche. Mitte 1943 beschließt die Vollzugsbehörde, möglichst viele NN-Gefangene aus der überfüllten Haftanstalt zu verlegen. Die meisten kommen ins berüchtigte, als Moorlager bekannte Strafgefangenenlager Esterwegen, andere in östlicher gelegene Strafanstalten. Augustinus Herreman wird am 22. Mai 1943 zusammen mit 150 NN-Häftlingen aus Frankreich und Belgien ins Zuchthaus Hameln überstellt.

In Hameln haben sich die Angehörigen von Stin für den 7. Dezember 2025 mit Bernhard Gelderblom verabredet, der sich seit über 20 Jahren darum bemüht, die Erinnerung an das NS-Zuchthaus Hameln wach zu halten.


Frankie Aendenhof mit seinen Söhnen Mitch (links) und Michael am 7. Dezember 2025 bei ihrem Besuch in Hameln
Foto: Bernhard Gelderblom


Die Drei übernachten bewusst im Hotel Stadt Hameln, dem Leidensort von Stin, heute ein Vier-Sterne-Hotel. Dieses ist im ältesten, 1827 errichteten Teil des Zuchthauses untergebracht. Alle übrigen, später errichteten Gebäude der ausgedehnten Strafanstalt wurden in den 1990er Jahren abgerissen und anderweitig genutzt.

Das Gespräch findet in der Lobby des Hotels statt, und die erste Frage der Drei lautet: „Warum erinnert hier nichts an die schlimme Vorgeschichte des Gebäudes?“ Das stimmt tatsächlich. Das Hauptgebäude heißt jetzt unschuldig „Rattenfänger“, das Lazarett „Schneewittchen“, die Verwaltung „Dornröschen“.

Bernhard Gelderblom berichtet über die Überlebensbedingungen im Zuchthaus Hameln, den harten Zwölfstundentag, die Kriegsproduktion, das Elend der letzten Monate, als etwa 300 Häftlinge starben, an Kälte, Unterernährung, Krankheiten, und über die vier Todesmärsche von Häftlingen nach Osten im April 1945.

Über Augustinus Herreman, so muss er gestehen, weiß er fast nichts. Das Verschwindenlassen der NN-Häftlinge funktioniert bis heute. Während von der großen Mehrzahl der Gefangenen teilweise umfangreiche Akten erhalten sind, findet sich in den Archiven zu den NN-Häftlingen nahezu keine Akten. Die Karteikarte, die für jeden Häftling angelegt wurde, ist im Falle von Stin nichtssagend. Die Spalten zur Straftat, zum Arbeitsplatz und zu Erkrankungen
in der Haft sind nicht ausgefüllt, in der Personenbeschreibung (Figur, Größe, Nase etc., etc.) steht zumeist einfach nur „mittel“. Im Aufnahmebuch der Anstalt findet sich beim Namen Herreman der Hinweis: „Akten vernichtet“. Nur aus dem Bericht eines überlebenden Gefangenen erfahren wir, dass die NN-Häftlinge aus Bochum in Hameln im Zellentrakt untergebracht waren und besonders schlecht behandelt sowie wohl auch geschlagen wurden.

Bereits nach gut drei Monaten – am 7. August 1943 – wird Stin der Hamelner Polizei übergeben, die ihn ins Amtsgerichtsgefängnis einliefert. Nach zehn Tagen wird er einem Transport übergeben, der ihn ins Polizeigefängnis Hannover „verschubt“. Von dort führt sein Weg in das KZ Sachsenhausen bei Berlin. Über die etwa zehn Monate, die er dort verbringen muss, ist den Angehörigen von Stin noch nichts bekannt.

Sein weiterer Weg sieht so aus: 18. Juni 1944 KZ Natzweiler bei Straßburg, 6. September 1944 KZ Dachau, 16. September 1944 KZ Mauthausen bei Linz.

Stins Leben endet kurz vor Kriegsende am 10. Januar 1945 im KZ Gusen, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, laut Totenschein wegen „Herzmuskelschwäche und eitrigem Dickdarmkatharr“. Der Ruf von Mauthausen mit seinen berüchtigten Granitsteinbrüchen ist schon Bochumer Häftlingen bekannt. Sie nennen den Ort „Mordhausen“. Für belgische NN-Häftlinge sind Mauthausen und Gusen besonders tödlich. Von 1000 dorthin deportierten Belgiern versterben 800, darunter auch Stin aus Hamme, Großvater von Frankie, Urgroßvater von Mitch und Michael Aendenhof.

Die Begegnung mit der Familie Aendenhof wird von Bernhard Gelderblom im Sinne der Völkerverständigung sehr ernst genommen. Seit Jahrzehnten empfängt er Nachfahren der damaligen Opfer, die sich auf die Spuren ihrer Vorfahren in Hameln begeben. Sie kommen vor allem aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg, Ländern, die Deutschland von 1940 bis 1945 besetzt hatte.

Es gilt, die Wunden zu lindern, die auch nach 80 Jahren und einem Abstand von drei Generationen, trotz europäischer Verständigung, immer noch schmerzen. Frankie erzählt, dass seine Mutter Rachel, die Tochter von Augustinus, in den 1960er Jahren am Strand mit den Kindern stets weggegangen ist, wenn sie deutsche Stimmen hörte, wenn also deutsche Touristen in der Nähe waren. Als Frankie später lange in Köln arbeitet, ist das der Mutter gar nicht recht. Inzwischen machen Frankies Kinder auch Urlaub in Deutschland. Sie rechnen den heutigen Deutschen die Untaten am Urgroßvater nicht mehr persönlich zu.

Familie Aendenhof bedankt sich herzlich, bevor sie von Hameln aus weiterfährt, zuerst nach Dresden und von dort nach Auschwitz. In einem der nächsten Jahre steht für die Drei dann als letzter, ihnen noch unbekannter Leidensort von Stin das KZ Sachsenhausen auf dem Programm.

Bernhard Gelderblom



herral, 10.12.2025

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