Hameln: Die Niedersächsische Volksstimme berichtet in ihrer Ausgabe vom 26.01.1921 über den Ausgang eines Gerichtsverfahrens gegen ihren Redakteur Arno Reichard. Leseabschrift:
Hameln und Umgebung
Hameln, den 26.01.1921.
Freissprechung des Genossen Arno Reichard im Gieren-Prozeß.
Vor der Strafkammer in Hannover mußte sich gestern unser Redakteur, Genosse Arno Reichard, wegen persönlicher Beleidigung des Major Gieren verantworten. Am 11. Nov. V.J., als Reichard wegen Offiziersbeleidigung zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, war die jetzt zur Verhandlung stehende Sache abgetrennt und vertagt worden. Es handelt sich um einen Artikel aus der Nummer vom 8.Januar v. J,, der überschrieben war: Unverschämte Anmaßung eines Hamelner Offiziers.
Damals hatte Herr Gieren – wie er übrigens in der Verhandlung gegen Reichard am 11. November selbst zugegeben hat – eine maßlose antisemitische Hetzrede gehalten. Daran knüpfte der jetzt inkriminierte Artikel an, der dann mit Herrn Gieren ganz gehörig, allerdings in sehr drastischer und derber Form, abrechnete. Genosse Reichard lehnte in diesem Falle die Verantwortung ab.
Er machte die schützenden Bestimmungen des letzten Absatzes des § 21 des Pressegesetzes für sich geltend, und führte den Beweis, daß er auch nicht fahrlässig gehandelt habe.
Als Zeugen waren geladen Genosse Becker, Genosse Wilke als Meiteur unserer Zeitung und Herr Major Gieren. Herr Gieren, der mit einer Fülle gedrucktem Material, angestrichenen Volksstimmenartikel etc. ausgerüstet war um nun den verhaßten Redakteur durch eine geschwollene Anklagerede hineinzulegen, hatte gar nicht das Vergnügen, den Gerichtssaal zu betreten.
Nach den unvereidigten Aussagen des Genossen Becker, der die Angaben Reichards nach jeder Richtung bestätigte, konnte auf alle übrigen zeugen verzichtet werden. „Ganz zufällig“ war im Zuhörerraum ein Anhänger Gierens, ein früheres Mitglied des Hamelner Soldatenrates, der dort wohl den Horchposten markieren sollte, um dann gegen Reichard als Belastungszeuge aufzutreten. Er sollte wohl bekunden, daß Reichard während der Kapp-Putsch-Tage in einer großen Zirkusversammlung gesagt haben soll, die Verbrecheroffiziere gehörten an die Laterne. Genosse Reichard ließ aber den „zufällig“ Anwesenden aus dem Zuhörerraume hinausweisen.
Nach der Aussage des Genossen Becker wurde der Staatsanwalt zum Verteidiger des Angeklagten. Er beantragte Freisprechung mit der Begründung, daß dem Angeklagten der Beweis für die Unschuld an dem Artikel voll gelungen sei und auch den Beweis dafür zu bringen, daß er nicht fahrlässig gehandelt habe. Man könne ihm nicht übel nehmen, daß er den Täter nicht früher genannt habe, weil er nach seiner Gesinnung sich nicht zum Denunzianten machen wollte. (Daß die Strafsache nach dem Pressegesetz auch gegen den Täter ohne Rücksicht auf die Kenntnis von ihm durch den Beleidigten schon am 8. Juli v. J. verjährt war, schien der Staatsanwalt nicht zu wissen). Der Staatsanwalt beantragte selbst die kostenlose Freisprechung Reichards. In diesem Falle hatten wir einen Verteidiger, Herr R.A. Dr. Katz – Hannover, dem nach dem glänzenden Plädoyer des Anklagevertreters nicht mehr viel übrig blieb.
Er machte aber die interessante Feststellung, daß Reichard auch im Falle seiner Schuld nicht bestraft werden könne, weil die ganze Sache unter den Amnestieerlaß fallen müßte. Nach Ansicht der Redaktion der Volksstimme habe sich die Kasernenhofrede des Herrn Gieren gegen die „Judenregierung“ als hochverräterisches Unternehmen dargestellt und in diesen Abwehr sei der Artikel in der „Volksstimme“ erschienen. Nach längerer Beratung erkannte das Gericht auf Freisprechung. In der Urteilsbegründung wurde die Überzeugung des Gerichtes von der Unschuld Reichard ausgesprochen, auch können ihm keineswegs der Vorwurf der Fahrlässigkeit gemacht werden. –
So sind wir denn wieder einem Prozeß losgeworden, der über ein Jahr gegen uns schwebte und auch die anderen Strafsachen werde schließlich das selbe günstige Ende nehmen wie diese.
Eine kleine Episode ist noch nachzutragen. Nachdem der Staatsanwalt gesprochen hatte, wollte Herr Gieren seinen Reinfall nicht mehr selbst miterleben. Der Gerichtsdiener meldete dem Präsidenten mit lauter Stimme: Der Herr Major Gieren wünscht entlassen zu werden. Dieser Wunsch wurde ihm vom Gerichtspräsidenten huldvoll gewährt und wir sandten ihm unausgesprochen den gutgemeinten Gruß nach:
Schüt´di Gott, es wär so schön gewesen,
Schüt´di Gott, es hat nicht sollen sein!
Weitere Berichte der Nds. Volksstimme vom 26.01.1921:
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